Wie viele andere, schaue ich mich gerade durch Mark Cousins‘ The Story of Film: An Odyssey (2011). Das sind fünfzehn Stunden Filmgeschichte (in Deutschland gerade auf DVD erschienen), erzählt mit zaghafter, staunender Emphase, Offenheit in viele Richtungen und Länder, erstaunlicher Expertise und offenkundiger Begeisterung. „Look at this scene!“, fordert der mit irischem Akzent sprechende Cousins immer wieder den Zuschauer auf, und dann lässt er ihn einige Sekunden tatsächlich in Ruhe zusehen, lässt die Bilder wirken, bevor er sich mit schlauen Bemerkungen aus dem Off zurückmeldet. Cousins vergisst bei aller Belesenheit nicht, worum es doch vor allem geht: um das Sehen. In den letzten Jahren gab es bekanntlich viele fiktionale Fernsehserien mit Suchtfaktor; dies ist die erste Dokumentation, von der ich sofort, auf der Stelle, einen Teil nach dem anderen sehen möchte.

The Story of Film entfacht zudem eine unbändige Lust, die besprochenen Filme zu besorgen, entweder um lange klaffende Bildungslücken zu schließen, oder um sie noch einmal zu sehen, weil man hier wieder an ihre Großartigkeit erinnert worden ist. Einiges habe ich deshalb auf DVD/Blu-Ray gekauft, anderes habe ich längst in der Sammlung und rückte es im Regal auf einen besseren Platz.  

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Aber so sehr die heimische Filmsammlung wichtig bleibt, umso mehr spielen Streamingdienste eine Rolle. Ich habe den weltgrößten und maßgeblichen, Netflix, mittels The Story of Film auf sein filmhistorisches Gedächtnis getestet und dazu eine Liste auf Letterboxd.com angelegt: Wie viele der in Cousins‘ Dokumentation erwähnten Werke sind dort zu finden? Die Antwort ist sehr ernüchternd: ganze 45 von 497, also 9,05 Prozent (gerechterweise muss man sagen, dass einige der Filme, vor allem aus der Kinofrühzeit, nur minutenlange Kurzfilme sind). Das liegt nicht daran, dass Cousins‘ Auswahl besonders ausgefallen wäre (das ist sie nicht, auch wenn sein Blick wesentlich breiter und internationaler ist als in herkömmlichen Filmgeschichten). Netflix hat durchaus fast alle Filme, aber die weitaus meisten nur als DVD, nicht bei Netflix Instant. Auf dem Weg zu einem Online-Filmarchiv sind wir also noch nicht so weit gekommen, wie ich gedacht hätte. Bei manchem hilft natürlich Youtube, und dabei besonders die Film-Suchmaschine Pegleg, aber sehr zuverlässig ist dieser Weg natürlich nicht. 

In diesem sehr ansehenswerten Interview spricht Mark Cousins über The Story of Film und seine Motivation, dafür um die Welt zu reisen, mit einer Kamera im Rucksack (welch traumhafte Vorstellung: um die Welt reisen und berühmte Filmregisseure interviewen!). Er sagt, dass er vor allem den Kanon erweitern wollte: Bisher sei Filmgeschichte oft „racist und unfair to women directors“ gewesen, also sehr zentriert auf weiße Männer. Er spricht auch davon, dass viele Filmliebhaber schlicht nichts über das Kino jenseits von Europa und den USA wissen. Viele blinde Flecken. Cousins dagegen nimmt sich Zeit für das afrikanische Kino, und auch das indische, und hat mir damit endlich zu der Erkenntnis verholfen, dass Indien nicht stets Bollywood ist. Erst kürzlich hatte ich ja nach einigen Kinobesuchen in Indien davon berichtet, wie merkwürdig die Bollywood-Phantasiewelt ist, wenn man in Jaipur auf der Straße steht. Von Pather Panchali (1955), einem enthusiastisch, mit viel Liebe von Cousins beschriebenen Film, besorgte ich mir jetzt gleich die DVD, einen schönen Satyajit-Ray-Dreierpack von Artificial Eye (Pather Panchali gehört übrigens auch zu jenen Filmen, die in voller Länge über Pegleg zu finden sind.). Er hat mich jetzt endgültig dazu gebracht, in die indische Filmgeschichte einzutauchen. An meiner vorherigen Blindheit hat auch Netflix nichts ändern können.