The Tree of Life
1. Juni 2011
„Da oben wohnt Gott“, sagt die Mutter (Jessica Chastain) und zeigt in den Himmel; dann hebt auf der Tonspur die Moldau an. Da schlucke ich dann doch und denke, Mr Malick, was ist denn da mit Ihnen durchgegangen? Die folgende Growing-Up-Sequenz, untermalt von der vorwärtsdrängenden, sprudelnden, lebendigen Musik Smetanas, gehört aber zu den schönsten Szenen dieser Art, die ich jemals gesehen habe. Junge Brüder im gemeinsamen Spiel, fließende Bewegung, zärtliches Licht. Es ist, wie so oft bei Malick, eine Vision des Paradieses. Gott hin oder her, das hier ist pure Schönheit.
Eine Schönheit, deren Kraft in der fließenden Montage von Bildern liegt, die jedes für sich durchaus – wie ja auch Smetanas Moldau – als kitschig gelten dürfen: Hände streifen über Gräser, Frauenhaar im Gegenlicht, ein Kamerablick entlang der Bäume, hoch in den Himmel. Die über Gräser streifenden Hände und die Baum-Bilder sind spätestens seit The Thin Red Line (1998) ein Erkennungsmerkmal Malicks geworden, fast so selbstgenügsam wie die Cameo-Auftritte Hitchcocks oder die Kameraeinstellungen aus Deckenlampenperspektive bei Scorsese.
Im zweiten Handlungsabschnitt von Tree of Life, der in der Jetzt-Zeit spielt und in dem Sean Penn durch moderne Hochhausfluchten und karge Wüstenlandschaften irrt, greift Malick den Blick auf die Bäume wieder auf und setzt die exakt gleiche Perspektive ein, um Hochhäuser zu filmen, Bürostahltürme, die hier wirken wie aus einem Science Fiction Film. Ist es wirklich dieser einfache Antagonismus, auf den der Film hinauswill? Natur und Zivilisation? (Oder deutet die Parallelität nicht auf einen Gegensatz, sondern auf eine Verbindung hin, eine Raum und Zeit unfassende Harmonie?) Man sah das schon in The New World (2005), wo die akkuraten englischen Gärten mit der wild wütenden Flora und Fauna des gerade entdeckten Amerika kontrastiert wurden. In Tree of Life wirkt es noch einmal dicker aufgetragen.
Ein weiterer, ebenso deutlich herausgearbeiteter Gegensatz scheint diese These zu stützen: Vater und Mutter manifestieren sich als ganz, aber wirklich ganz grundsätzlicher Unterschied zwischen Männlichem und Weiblichem. Der eine, gespielt von Brad Pitt, erzieht seine Söhne mit vielen Taten und Worten zu Härte („Hit me, son, hit me hard!“), die andere bildet schweigsam (Jessica Chastain hat insgesamt kaum drei Sätze Dialog zu meistern) und passiv den ruhenden Gegenpol bedingungsloser Liebe. „Du kannst nur glücklich sein, wenn du liebst“, sagt sie einmal aus dem Off, der Satz ist so etwas wie die Quintessenz des ganzen Films, wenn man ihn denn überhaupt auf eine Formel bringen kann. Die Szene, wenn der Vater auf Dienstreise ist und die Kinder mit der Mutter unbeschwert um das Haus toben, ist ein Akt der Befreiung, ähnlich schön anzuschauen wie die zuvor erwähnte Growing-Up-Sequenz. Die Harmonie mit der Natur wird nur selten gebrochen, etwa wenn ein Tankwagen durch die Straße fährt und schwadenweise DDT versprüht, während die Kinder fröhlich durch die hochgiftigen Pflanzenschutzmittel-Wolken hüpfen.
Das DDT ist neben den Autos und der Kleidung der Personen ein Hinweis darauf, wann dieser Teil der Handlung spielt: in den 50-er Jahren, in Texas, in einer durchschnittlichen Mittelstandsfamilie mit drei Kindern. Ziemlich am Anfang des Films gibt es einen zeitlichen Vorgriff, in dem die Mutter die Nachricht vom Tod eines der drei Söhne erhält (in einem Krieg?). Dann folgen immer wieder Wechsel zu Sean Penn, der als erwachsen gewordener Erstgeborener mit sich hadert.
Von der dritten Ebene ist schon viel Raunendes geschrieben worden: Es sind die 20 Minuten, in denen nichts weniger als die Entstehung der Welt gezeigt wird, vom Urknall über Einzeller, Amphibien, bis zu den Sauriern (und deren Auslöschung, man sieht den dafür verantwortlichen Meteoriten in die Erdatmosphäre eintreten). Die drei ineinander verwobenen Teile unterscheiden sich in ihrem Zeitrahmen, nicht aber in ihrer Erzählhaltung. Immer sind es assoziative Montagen, kaum Dialog, Handlung wird nur angedeutet (der Tod des einen Sohnes, der Saurier, der seine Wunde betrachtet, die Frage, warum der Vater seinen Job verliert, Sean Penn, offenbar ein Architekt oder Bauunternehmer, der desinteressiert auf Pläne schaut, der Saurier, der sich entscheidet, seinen Kontrahenten nicht zu töten). Interpretierbare Substanz wird nicht zuletzt, auch das ein Malick-Signum, mittels mehrstimmiger Off-Kommentare transportiert, hier sind es Vater, Mutter, der Sohn als Kind und der Sohn als Erwachsener, die zu Wort kommen.
„Grace“ ist ein zentrales Wort dieser Off-Erzählungen, in den Untertiteln als „Gnade“ übersetzt. Gemeint sein könnte aber auch die Anmut, ein Wort, das Malicks Bilder gut beschreiben würde. Darunter geht allerdings der Blick für Details verloren. „Wir müssen das hier und das ändern”, sagt Penn einmal mit einem flüchtigen Fingerzeig auf einen Bauplan. Da ist der Film genauso desinteressiert wie die Figur. In The New World hatte man noch den Eindruck von historischer Akkuratesse – das Fort, der Schlamm, die Lebensumstände damals –; in The Thin Red Line bekam das Kriegshandwerk eine nicht unerhebliche Aufmerksamkeit, es gab spannende und aufwühlende Szenen wie die blutige Eroberung eines Hügels. Und man hatte den Eindruck, dass die Figuren wussten, von was sie redeten. Hier jedoch geht es nur um ganz Großes.
Aber was heißt hier: “nur”? Malicks Filme sind beschrieben worden als Kathedralen und als Gebet, beides ist treffend, und es gibt keinen Zweifel, dass The Tree of Life ein religiöser Film ist, allerdings kein zwingend christlicher, eher ein pantheistischer. Die Zeit im Kinosessel verbringt man in Ehrfurcht. Der Glaube an etwas Erhabenes, sei es Gott, sei es die Kunst. Oder eben die Liebe. Und vielleicht ist es gerade der manchmal so ziellos scheinende Impressionismus, der so für den Film einnimmt. Als Lackmustest versuche man sich nur einmal vorzustellen, wie ein nach klassischem Muster gebautes Drehbuch versuchen würde, diese letzten Dinge zu vermitteln.
Ich verlasse das Kino mit einer ambivalenten Gefühlsmischung aus instinktiver Bewunderung und einem reflektierten „Ja, aber!“. Es hilft nur eins: So schnell wie möglich ein zweites Mal sehen!
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The Tree of Life in der Internet Movie Database
Kinostart: 16. Juni
Bilder: ©Concorde Filmverleih
Schön eingefangene Ambivalenz des Betrachters. Ging mir ähnlich.