Bolt und die Angst des kleinen L

21. Juli 2009

Zu klein fürs Kino gibt es nicht. L, fünf Jahre alt, bekommt vom freundlichen Kartenverkäufer einfach ein dickes Kissen untergeschoben und thront nun stolz neben mir in Reihe elf, eine Popkorntüte in mittlerer Größe auf seinem Schoß. Es ist sein zweiter Kinobesuch, nach „Auf in den Westen, Lucky Luke!“ auf der Berlinale vor einem Jahr. Ich habe L, seine elfjährige Schwester und seine Mutter eingeladen, den Trickfilm Boltbolt.jpg anzusehen. Streng genommen ist er noch ein halbes Jahr zu jung dafür, andererseits ist ein Kind mit derart geringem Medienkonsum wohl auch im Schulalter noch nicht ganz reif für einen Film mit FSK 6. Und irgendwann muss man ja mal anfangen.

Bolt handelt von einem Hund gleichen Namens, der als Star einer Fernsehserie über Superkräfte verfügt, dem aber niemand gesagt hat, dass er eigentlich ein ganz normaler Hund ist. Der also seine Filme für die Realität hält, was zu einigen komischen Verwicklungen führt, als er zum ersten Mal in seinem Leben vom Studiogelände flieht, um seine Filmpartnerin zu retten, ein kleines Mädchen – und mit seinen vermeintlichen Superkräften immer wieder gegen die harte Realität anrennt.

Der Film beginnt in der Nachmittagsvorstellung dankenswerterweise ohne lange Werbung und ohne Trailer, aber schon in der ersten Szene werde ich in meinem Sitz ganz klein vor schlechtem Gewissen. Eine rasante Verfolgungsjagd mit quietschenden Autoreifen, Hubschraubern und Explosionen, wie geradewegs aus einem Jean-Claude-Van-Damme- oder James-Bond-Film. Bolt hetzt über eine Brücke, stoppt ein Auto der Bösen, indem er in die Stoßstange beißt und tut alles, was Superhelden so tun, für ein Publikum von Jungs ab 14 oder 15, oder auch schon mal Mitte 30. Verstohlen blicke ich nach links, einen in sich zusammengekauerten L erwartend, der sich nach der betulichen Ruhe seiner Lieblings-Vorabendserie „Little Mozart“ sehnt. Aber man soll Kinder nicht unterschätzen. L sitzt mit aufgerissenen Augen kerzengerade in seinem Sitz, die Popkorntüte jungfräulich auf den Knien, den Mund offen. Ich beuge mich zu ihm und frage unsicher, jederzeit darauf eingestellt, dass seine Mutter ein Veto einlegt und wir alle zusammen das Kino verlassen müssen:

„Gefällt dir der Film?“

Er nickt heftig, ohne den Blick zu wenden.

Beruhigt lehne ich mich wieder zurück und denke darüber nach, dass mir das Gedonnere, Gewumse, Geschrei und Gequietsche auf der Leinwand eigentlich ziemlich auf die Nerven gehen. Ich greife in die Popkorntüte, die L längst vergessen hat. Schließlich bugsiere ich sie ganz zu mir herüber.

Die Wind-und-Rauch-Maschine eines Zauberers von Oz kann offenbar auch einen Fünfjährigen nicht mehr erschrecken; wohl aber faszinieren. Nach dieser Eröffnungssequenz aber ändert der Film Richtung und Tonfall. Erst dann wird offenbar, dass das Gesehene ein Film im Film war, und dass der kleine süße Hund mitnichten über Superkräfte verfügt. Zwei bösartige Katzen, Bewohner des Studiogeländes, lästern kräftig über das ahnungslose Tier, das sein Leben als vermeintlicher Retter unschuldiger Jungfrauen fristet; einen geldgierigen Manager gibt es auch noch und überhaupt viele Betrachtungen über das Berühmtsein. Ein weiteres Mal noch wird sich eine – besonders emotionale – Szene als Gaukelspiel entpuppen, als zunächst nicht erkennbarer Moment des Films im Film. Was aber weder der kleine Bolt auf der Leinwand noch der kleine L neben mir begreifen werden. Ein Film für Kinder, der die vierte Wand durchbricht? Donnerwetter. Wie viel Abstraktionsvermögen hat man denn heutzutage, wenn man gerade erst Lesen und Schreiben lernt?

Nicht so viel, stellt sich wie erwartet heraus. Für L ist alles real, was auf der Leinwand passiert, da gibt es keinen doppelten Boden und keine andere Ebene, egal ob dort riesige Lkw-Trucks mit viel Getöse umfallen, ein Mädchen um seinen verloren gegangenen Hund weint oder ob eben jener Hund während einer Verfolgungsjagd in eine Kiste gerät: Klappe zu, Porto drauf und ab geht es in ein Postauto, quer durch die USA. An genau dieser Stelle, am Ende des ersten Drittels eines 96 Minuten langen Films, erstarrt L neben mir. Er stößt einen kurzen, atemlosen Laut aus und ruft mit einer Stimme, der man die aufsteigenden Tränen schon anhört:

„Was wird denn jetzt mit dem Hund?“

Ich kann seine Gedanken dazu förmlich hören: Und warum nutzt Bolt nicht seine Superkräfte, um aus der Kiste herauszukommen? Offenbar ist die Vorstellung, in die Fänge der Post zu geraten, unendlich viel schlimmer als der Anblick einer Armee dunkel gekleideter Bösewichter geradewegs aus einem Action-Blockbuster. L ist jetzt wirklich verstört und rutscht auf seinem Sitz hin und her. Ich flüstere ihm ins Ohr und verspreche, dass Bolt nichts passieren wird. Dann versuche ich noch, ihm etwas Popkorn anzudrehen und ihn so abzulenken. Vergeblich. L krabbelt erst einen, dann zwei Sitze weiter und sucht Trost zunächst bei der Schwester, dann bei der Mutter.

„Sollen wir lieber gehen?“, frage ich, halb an L, halb an seine Mutter gerichtet.

„Möchtest du gehen oder weiter den Film ansehen?“, fragt auch die Schwester halb besorgt und halb belustigt.

L hat, eingekuschelt zwischen den Armen der Mutter, inzwischen aber wieder Mut gefunden und mag das Abenteuer nicht so einfach aufgeben. Er schüttelt langsam den Kopf. Wir sehen uns den Film bis zum Ende an. Der Platz neben mir bleibt aber leer, L bevorzugt nun die beruhigende Nähe seiner Familie. Das Kissen auf seinem Sitz bleibt wie ein vergessenes Requisit einsam liegen. Ich stelle die Popkorntüte darauf ab und greife in regelmäßigen Abständen hinein.

Die Episode mit dem Postpaket ist in der Tat bald vorüber, aber von Beruhigung kann keine Rede sein. Während Bolt neue Freunde findet, um sein Abenteuer zu bestehen (darunter einen absurd dicken, fernsehsüchtigen Hamster in einer Glaskugel), bleibt L angespannt. Einmal heben wir noch zu einer Erklärung der Struktur dieser Geschichte an – „Weißt du, da sind zwei Ebenen in dem Film. Der Bolt ist ja nicht wirklich ein Superheld, das glaubt er nur, weil er in einer Fernsehserie mitspielt, und der Film hier lässt manchmal die Grenzen zwischen der einen und der anderen Welt erkennen und manchmal nicht. Also es gibt sozusagen zwei Bolts: den unechten, aus der Fernsehserie, und den echten, der sein Frauchen sucht, verstehst du? Wobei natürlich der auch nicht echt ist, weil das ist ja nur ein Film; und du musst auch keine Angst um ihn haben …“ (Ächz) – aber das ist vergeblich. Am Ende rettet Bolt mit über-hündischer Kraft („Aber keiner Superkraft, L! Er ist einfach nur über sich hinausgewachsen.“) das Mädchen, es kommt genau so ein Happy End, wie ich es versprochen hatte, und als wir draußen durch das Foyer in den Neuköllner Abend schlendern, ist L noch ganz begeistert von den visuellen und emotionalen Sensationen, die er erlebt hat. Und mir ist schlecht von dem vielen Popkorn.

Am nächsten Morgen, am Frühstückstisch, erzählen L und seine Schwester ihrem Vater die Geschichte von Bolt und seinem Frauchen. Sie tun das so, wie Kinder meistens eine Geschichte erzählen: „Und dann passierte dies“, „und dann passierte das“, „und dann kam der böse Mann“, „und dann war da noch der Hamster“. Und dann, ganz plötzlich, in so eine einfache, lineare Struktur gebracht, ergibt der Film auch für uns Erwachsene endlich einen Sinn.

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