Projekt Bildungslücke (1): Scarface (Howard Hawks, 1932)

14. Dezember 2008

am 23.11.08 im Filmclub 813 (Howard-Hughes-Reihe)

Die Kettensägen-Szene aus dem Remake mit Al Pacino noch in unguter Erinnerung, nahm ich freudig die Gelegenheit wahr, das noch nicht gesehene Original nachzuholen. Hoffnung: Einen Film zu sehen, der die Großkotzigkeit des Protagonisten nicht in die eigene Ästhetik überträgt. Auf dem Weg zum Kino schneit es, und wir wundern uns darüber, wie schön Köln aussehen kann, wenn man es mit einem weißen Tuch bedeckt.
Scarface
Der Film beginnt mit einer für die damalige Zeit sicher ungewöhnlich langen Plansequenz (wir sind ja nicht bei Murnau), einer Kamerafahrt von der Straße in ein Restaurant, zu einem Tisch mit Gästen, dann abseits zu einem Schatten, schließlich der Mord. Tony (Paul Muni), obwohl nur als Schatten zu sehen, bringt bereits in der ersten Szene den Tod. Das Auffälligste an Scarface sind aber nicht solch vergleichsweise aufwändige Technik-Könnerschaften, sondern die wunderbar altmodische Art, wie sich Motive und Gesten durch den ganzen Film ziehen. Da ist zum einen das Kreuz, das in unterschiedlicher Form immer dann ins Bild rückt, wenn gestorben wird. Selbst im im Nachspanntitel wird es noch einmal aufgenommen. Dann Tonys flache Hand, die er grüßend von der Stirn wegzieht. Seine Schwester ahmt die Geste nach, ein Foreshadowing zu ihrem späteren Versuch, ihm zu helfen und gegen die Polizei zu kämpfen. Tonys Aufsteigersprech, wenn er seinen Boss immer wieder fragt: „Expensive, huh?“ Als er den Boss beseitigt hat, wird er dasselbe natürlich selbst gefragt.
Schon Truffaut war von der Szene begeistert, in der Boris Karloffs Gangster stirbt. Er bückt sich, um eine Bowlingkugel zu schieben und wird in dem Moment erschossen. Er sackt aus dem Bild, die Kamera verlässt ihn und folgt der Kugel, die acht Kegel umwirft; der neunte taumelt noch einsam und fällt dann auch. Das ist Symbolismus auf so hoher wie spielerischer Ebene, ein überdeutlicher Verweis auf die Tatsache, dass Karloff der letzte Widersacher Tonys war. Möglicherweise würde man einem heutigen Film solch Ausrufezeichen übelnehmen, hier aber sehe ich nichts als elegante Visualisierung.
Was mir auch gefallen hat: Die Komik, die Tonys Sekretär in den ansonsten erbarmungslosen Film bringt; ich weiß nicht, ob dieser comic relief vom Studio verordnet wurde, um Scarface fürs Publikum zu glätten – aber selbst wenn: die Szenen, in denen er mit der „modernen Erfindung“ Telefon nicht klarkommt, nach dem Namen des Anrufers fragt, ihn akustisch nie versteht (und einmal mitten im Maschinengewehrfeuer bittet, lauter zu sprechen), den Namen aber auch nicht aufschreiben könnte, weil er nämlich gar nicht schreiben kann, diese Szenen sind schon richtig lustig.
Übrigens muss mal jemand eine Arbeit über Zeit-vergeht-Montagen im klassischen Hollywoodkino schreiben. Meine liebste war bisher der im Wind blätternde Kalender bei Douglas Sirk, aber die mit einem ratternden Maschinengewehr überblendeten Kalenderblätter in Scarface sind ebenfalls klasse. Die Schieß-Richtung ist dieselbe wie die Umblätter-Richtung, wodurch das Gewehr sozusagen Zeit verballert.

Scarface bei der imdb

Eine Antwort to “Projekt Bildungslücke (1): Scarface (Howard Hawks, 1932)”

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