Selbstbewusstes Handwerk – Der Oscar für The Hurt Locker

8. März 2010

Jemand möge bitte eine Statistik heraussuchen und untermauern, was ich jetzt schreibe: The Hurt Locker ist der kommerziell am wenigsten erfolgreiche Film, der jemals einen Academy Award in der Kategorie best motion picture gewonnen hat. In Deutschland hatte er rund 55.000 Zuschauer, in den USA lief es auch nicht viel besser. Weltweit spielte er etwas mehr als 21 Millionen Dollar ein, bei Produktionskosten von 15 Millionen. Vielleicht klingt das nicht in jedem Ohr so, aber das ist wirklich ziemlich wenig.
Selten zeigte sich die vielbeschworene Distanz zwischen Publikum und Kritikern so deutlich wie hier; für letztere war Tödliches Kommando (so der deutsche Verleihtitel, was Sie womöglich gar nicht wissen, weil der Film im vergangenen Herbst im Kino ziemlich unterging) schnell ein Liebling.
Das Publikum aber wurde nicht warm damit, und zwar, wie ich glaube, aus verschiedenen Gründen. Am vergangenen Wochenende habe ich einem Dutzend Freunde einige der nominierten Filme gezeigt, darunter auch Hurt Locker. Er war der von allen am wenigsten geliebte Teil des triple features. Ich bin sicher, dass das wenige wundern wird, und dabei habe ich noch gar nicht verraten, dass einer der drei Filme The Blind Side mit Sandra Bullock war (der dritte war Up, den natürlich jeder mag).
Wirklich interessant wird es, wenn man sich die Gründe für die Unbeliebtheit von The Hurt Locker ansieht und sie vergleicht mit der Würdigung seiner künstlerischen und technischen Verdienste. Einige meiner Gäste bemängelten, er lasse durch seine elliptische Erzählhaltung keine Beziehung zu den Protagonisten entstehen (und der Film gewann den Oscar für das beste Drehbuch), anderen war er viel zu laut (und der Film gewann beide Oscars für den besten Ton). Wieder andere mochten die ruckartige Inszenierung nicht (und der Film gewann den Oscar für den besten Schnitt).
Einige vermeinten sogar eine Art Rekrutierungsvideo für den Irak-Einsatz der USA zu erkennen, ein Gedanke, der mir selbst im Entferntesten nicht gekommen wäre. Dass Bigelow ihren Film in der Dankesrede den Frauen und Männern des US-Militärs im Irak, in Afghanistan „und in der ganzen Welt“ widmete, die „täglich ihr Leben riskieren“ und gesund nach Hause zurückkehren mögen – geschenkt. Gewiss, das klingt nicht wie Michael Moores „Shame on you, Mr. Bush“. Diesen über alle Maßen nüchternen Film aber patriotisch zu nennen, wäre sicher verfehlt.

Bewegt Hollywood sich also, wie zurzeit häufig zu lesen ist, weg vom Blockbuster–Bombast? Bedeutet dieser Ausgang – der kleine Hurt Locker gewinnt gegen den großen Avatar – dass Geld, wie die FAZ schreibt, nicht mehr alles ist? Dass eine moderne Interpretation klassischer Tugenden des Filmemachens en vogue ist? Ein Blick auf das Kinoprogramm schützt vor solchen Hoffnungen. Aber die Entscheidung „für den richtigen Film“ steht in so auffälligem Kontrast zu der vom vergangenen Jahr, dass man doch geneigt ist, darin wenigstens ein ganz kleines bisschen herumzudeuten. 2009 gewann Slumdog Millionaire, der in seiner filmischen Form fast das genaue Gegenteil von The Hurt Locker ist. Die Zuschauer in meinem Wohnzimmer waren im vergangenen Jahr schon nach zehn Minuten Fans von Danny Boyles Film. Geld war bei Slumdog auch nicht alles, es handelte sich ebenfalls um eine verhältnismäßig kleine Produktion. Aber Geld war eben auch nicht ganz egal, denn an der Kasse war er ein Über-Hit. Ebenso wie übrigens Oliver Stones Platoon, der letzte zu Oscar-Ehren gekommene Film über einen amerikanischen Krieg, damals, 1987.
Die 82. Oscar-Verleihung markiert deshalb nicht so sehr eine Abkehr von Multimillionendollar-Produktionen, die hat schon Slumdog markiert. Mit dem Preis für The Hurt Locker kommt vielmehr nun noch das Selbstbewusstsein des Handwerks gegenüber den Buchhaltern der Industrie zum Tragen.

– Den Verlauf der Oscar-Nacht kann man als kollektiven Twitter-Bericht bei Peter Noster nachlesen. Ein Fazit der Verleihung ziehen Moviezkult, Equilibrium, Duzy Blazk, Thomas Hunziker und nochmal Peter Noster.
– Die Liste aller Gewinner und Nominierten bei oscars.org.
Dankesreden der Gewinner (mit vorgeschalteter Werbung). Kathryn Bigelows Dankesrede. Sehr schön auch: Sandra Bullock als beste Hauptdarstellerin.

13 Antworten to “Selbstbewusstes Handwerk – Der Oscar für The Hurt Locker”

  1. […] von Bigelow, die Mädchenmannschaft verweist auf ein Interview mit ihr; Thorsten schließlich kommentiert den Preis. critic.de hat eine von vielen hymnischen Besprechungen des Films. Andere auf diesen Beitrag […]

  2. thomas said

    was bigelows widmung angeht (und das richtet sich jetzt selbstredend überhaupt nicht an dich!): nur menschen mit sehr wenig ahnung von der us-amerikanischen kultur dürften dies als eine art patriotische pro-kriegsäußerung verstehen. was daraus spricht ist lediglich die, rein menschliche, sorge um das wohlergehen der soldaten, an der auch weite teile der antikriegsbewegung in den usa anknüpfen. in verbindung mit dem (was die politik betrifft ja äußerst moderaten) film ist eine solche vorsichtige äußerung für mich zumindest implizit als distanzierte selbstverortung zum säbelrasseln zu verstehen. dass sie kein trotzig-aufstampfendes „soldaten sind mörder“ ins mikro gerufen hat, kann man ihr, meines erachtens, nicht zum vorwurf machen. (es sei denn, man legt wert auf eine politische kultur der bloßen selbstvergewisserung eigener moral-politischer maßstäbe – womit man strenggenommen nicht mehr politisch ist)

  3. tfunke said

    Absolut d’accord. Mir scheint es so eine merkwürdige europäische Erwartung zu geben, dass wenn Irak-Film, dann bitteschön kritisch. Dass Hurt Locker sich um solche Fragen gar nicht kümmert, macht ihn vermutlich weniger publikumsbeglückend. Und was ja man sowieso keinerlei künstlerisches/handwerkliches Kriterium wäre.

  4. Einfach nur deprimierend, Deine Schilderung der Zuschauerreaktionen. Wie rundum mit Vorurteilen vernagelt muss man denn sein, dass ein so genuin packender Film da nicht mehr durchkommt? (Das ist eine rhetorische Frage.)

  5. Einige meiner Gäste bemängelten, er lasse durch seine elliptische Erzählhaltung keine Beziehung zu den Protagonisten entstehen (und der Film gewann den Oscar für das beste Drehbuch)

    Einer der Dinge,die auch ich am meisten bemängele an THE HURT LOCKER. Ein starker Film, keine Frage. Aber bei 130 Minuten hätten die Figuren besser gezeichnet sein dürfen. Die Distanz ist die große Schwäche.

  6. tfunke said

    Ich war, ehrlich gesagt, auch ziemlich baff über die fehlende Liebe zu dem Film. Ob das mit Vorurteilen und Verhageltsein zu tun hat, weiß ich nicht. Sicher aber mit enttäuschten Erwartungen. Und mit Geschmacksfragen. Mancher mag Kriegsfilme einfach nicht. (Ich kenne sogar jemanden, der grundsätzlich keine Filme mag, die auf Schiffen spielen, kommt auch vor, einzige Ausnahme: Fluch der Karibik) Dennoch: Erstaunen, denn ich fand THL beim zweiten Mal sogar noch packender als beim ersten Mal. (es gab auch jemanden im Publikum, der vor Gepacktsein gar nicht hinsehen konnte, das dann aber auch unangenehm fand).
    Christopher bemängelt oben die Distanz zu den Figuren; überhaupt, dass es keine Identifikationsangebote gibt, für Frauen schon mal gar nicht.
    Man kommt ja um die Tatsache nicht herum, dass der Film kaum jemanden ins Kino gebracht hat, trotz guter Kritiken (er war sogar in den Tagesthemen oder im Heute-Journal, wenn ich mich recht erinnere). Meine Schilderungen der Reaktionen sind ja nur ein Abbild davon und erklären das vielleicht ein bisschen. Mit einem bestimmten Blick auf den Film, der die Art, wie er gedreht ist, völlig ausklammert, kann man ihn nur als Aneinanderreihung von einzelnen ähnlichen Situationen sehen.
    Und klar, das ist deprimierend, wenn man sich um den Fortgang der Filmkunst bekümmert, und wer von uns tut das nicht? Dass so ein Film zu Oscar-Ehren kommen kann, macht diesen viel geschmähten Preis aber auch jenseits des Spaß-Faktors wieder interessant.

  7. Stefan said

    Kann Thomas nur zustimmen, Politik spielt hier keine Rolle, die Academy stand schon immer hinter den Truppen, das wird fast jedes Jahr deutlich. Es geht um das Engagement der Soldaten generell, was jeder von ihnen persönlich opfert, nicht für was sie kämpfen.

    Und Mann, jetzt habe ich aber Bock mir die THE HURT LOCKER DVD bzw. BD zu holen … ^^

  8. @ChristopherK, @tfunke: All das, was bemängelt wird – Distanz und Elliptik und Wiederholung mit Variationen – sind doch Stärken des Films, die davon zeugen, dass er situativ und strukturell denkt, aber nicht sinnlos und konventionell individualisiert. Man verlöre die Situation und die Struktur dann gleich aus den Augen.

  9. tfunke said

    @Ekkehard klar, das ist so, und das kann man an dem Film erkennen. Wer das aber nicht erkennt (oder gar nicht strukturell über Filme nachdenkt), der erkennt das auch nicht als Stärke und findet es womöglich doof. Was in Ordnung ist, ich würde niemandem vorschreiben wollen, wie er auf einen Film zu blicken hat.
    Deshalb finde ich es ja gerade so bemerkenswert, dass die Academy all diese Sachen (Schnitt, Drehbuch) würdigt, also wirklich eine professionelle Perspektive einnimmt, keine wirtschaftliche. Und nicht prämiert, was als Filmsprache lediglich dazu beitrüge, den Film besser verkaufen zu können, sondern dass, was in sich stimmig ist.

  10. Thomas said

    Die «vielbeschworene Distanz zwischen Publikum und Kritikern» ist vor allem vielbeschworen und sonst nur wenig. Von den Benutzern der IMDb erhält «The Hurt Locker» sehr solide 8 von 10 Sternen. Ausserdem sind die Mitglieder der Academy nicht Kritiker. Da wird jede Menge vermengt, das getrennt beobachtet werden sollte.

    A: Die Kritiker bewerten den Film gemäss Metacritic durchschnittlich mit sehr hohen 94 von 100 Punkten. Offensichtlich gefällt den meisten die scheinbare Authentizität und die Inszenierung. Ich habe ein wenig Mühe mit Filmen, in denen sich die Stilmittel (Schüttelkamera, nervöser Schnitt) so stark in den Mittelpunkt stellen, aber die meisten (US-)Kritiker hat das offenbar nicht gestört. Mir ist das schon zu künstlich, um noch künstvoll zu sein.

    B: Das durchschnittliche Publikum hat offensichtlich keine Lust auf… was genau? Da sich fast niemand den Film angeschaut hat (zwischen Publikum und Kritiker besteht bekanntlich eine vielbeschworene unüberbrückbare Distanz), kann es sich nicht wirklich herumgesprochen haben, dass die Figuren nicht viel Identikationsfläche bieten und praktisch keine Handlung vorhanden ist. Zwei Faktoren, die ein breites Publikum abschrecken. Aber vermutlich – nur eine Vermutung – hat der durchschnittliche Kinogänger keine Lust auf einen Film über den Krieg im Irak (oder in Afghanistan: «Lion for Lambs»). Der für 2 Oscars nominierte «The Messenger» hat gerade einmal 1 Million Dollar eingespielt. An der Kinokasse ist nicht die Reaktion der Kritiker, sondern ganz einfach das Thema ausschlaggebend.

    C: Die Academy macht sich gerne zwischendurch mit politischen Entscheidungen bemerkbar – sofern die Filme nicht zu radikal sind. «The Hurt Locker» ist dafür ideal, zeigt er doch die Gräuel des Kriegs, ohne wirklich Stellung zu beziehen.

  11. TJK said

    Mit dem Schlussfazit bin Ich nicht ganz einverstanden.

    Avatar war alles andere als eine sichere Investition gewesen: keine grossen Stars, es hatte keine „Marke“, wie Harry Potter, Transformers, Spiderman etc. und sah auf den ersten Blick doch sehr komisch aus. Wenn ein Studio Geld machen will, macht sie ein Reboot, eine Adaption oder eine Fortsetzung.

    James Cameron hatte zudem mit Titanic seine Karierre mal auf Spiel gesetzt, mit Avatar schien er das nochmals zu machen.

    Zudem muss man mir erklären inwiefern Hurt Locker wirklich das Künsterhandwerk ,vorallem in den Bereichen Schnitt und Ton, gegenüber dem Publikum besser vertritt als Avatar.

  12. Irreversibel said

    „The Hurt Locker“ ist beileibe kein schlechter Film, mMn jedoch insbesondere vom Feuilleton stark überschätzt. Und das liegt nicht daran, dass er keine dezidierte politische Message transportiert, sondern an der bereits erwähnten Tatsache, dass man als Zuschauer kaum einen Zugang zu den Protagonisten findet (was etwas anderes ist als sich mit ihnen identifizieren zu können).

  13. random hero said

    Was für mich das Herausragende an THL war, ist sein direkter Zugang in die Situation dieses seltsamen Krieges. Anspannung und Gefahr sind in jeder Sekunde spürbar. Das gelingt, wie ich finde, gerade indem man die Protagonisten und deren Inneres nicht in den Mittelpunkt stellt. Im Mittelpunkt steht die Situation, die Gefahr, die Angst, und ehe man sich versieht steht man selbst mittendrin. Wie würde ich reagieren, was würde ich tun? Es fühlt sich an wie selbst erlebt (natürlich auch unterstützt durch handkamera etc, die ich aber relativ zurückhaltend eingesetzt fand). Und das ist doch letztendlich Kino, das Erleben fremder Welten (oder Leben), auch wenn es wie in diesem Fall ein Krieg ist, in den ich niemals in der Realität erfahren möchte.

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